Ein „Ripper“ lernt fliegen – funktionelle Morphologie in Deinonychosauria

Zwei paläontologische Fragestellungen, die auf den ersten Blick nicht viel miteinander zu tun haben, werden in der jüngsten Publikation von Denver Fowler  (Montana State University) und Kollegen thematisiert: Die funktionale Morphologie der „Killer-claw“ von Deinonychosauriern (populärwissenschaftlich „Raptoren“) und die Evolution des Flugs in Vögeln.
Der Artikel wurde in einem open access Journal veröffentlicht, sodass er kostenlos im Internet einsehbar ist:

http://www.plosone.org/article/info:doi/10.1371/journal.pone.0028964

Die Abstammung der Vögel von Dinosaurier zweifeln heute nur noch sehr wenige Paläontologen an. In Kladogrammen, also Verwandtschafts-Diagrammen, nehmen Vögel den Platz der Schwester-Gruppe zu Deinonychosauria ein. Innerhalb der Raubsaurier (Theropoden) ist diese Dinosaurier Gruppe den Vögeln daher am nächsten verwandt.

Heutzutage nutzt die Paläontologie moderne Wirbeltiergruppen für diverse Vergleiche; besonders beliebt ist die Extant Phylogenetic Bracket Method (EPB), in der eine ausgestorbene Gruppe mit denjenigen lebenden Verwandten verglichen wird, die basal als auch höher entwickelt zu der untersuchenden Gruppe stehen und sie phylogenetisch daher quasi einklammern. Für Dinosaurier nimmt man Krokodilomorphe Gruppen, die zusammen mit den Dinosauriern (und etwa den Pterosauriern, die allerdings ausgestorben sind) die Gruppe der Archosauria bildet. Als zweite Gruppe dienen Vögel, die direkten Nachfahren der Dinosaurier. Durch Evolution werden neuen Gattungen und Arten neue Charackteristika hinzugefügt, die basale Gruppen nicht aufweisen. Ein Beispiel sind Federn: Alle Vögel haben welche, während Krokodile keine haben. Dinosaurier, die von beiden Gruppen phylogenetisch eingeklammert sind, müssen während ihrer Evolution zu den Vögeln irgendwann folglich Federn entwickelt haben.

In Fowlers Paper werden die Morphologie und funktionelle Implikationen von Deinonychosauriern wie Troodon oder Deinonychus („schreckliche Klaue“) mit Accipitriden verglichen – Falken und Adlern.
Diese Gruppe weist einige Gemeinsamkeiten in der Fußanatomie mit Deinonychosauria auf: Die Kralle am zweiten Zeh (D-II) ist größer als die der anderen Zehen und ist durch eine spezielle Artikulation (Ginglymoidie), bei der die distale Phanlanx-Gelenkfläche dem Klauenknochen kaum Bewegungsraum bietet. Der gesamte Zeh ist robuster gebaut und erlaubt wenig Torsion. In den modernen Dinosaurier-Analogien wird diese Morphologie für ein spezielles Fressverhalten genutzt: Falken nutzen ihre Füße, um Beutetiere mit einem kräftigen Griff zu stabilisieren. Ihnen fehlt ein effektivere Tötungsmechanismus; die Beute wird lebendig gefressen und verendet letztlich an Blutverlust. Da die Füße in der Beute versenkt sind und diese sich wenigstens anfangs noch bewegt, hat das Tier selbst keinen Halt und kein Gleichgewicht. Accipitriden wirken dem durch „stability flapping“ entgegen: Flügelschlagen zur Balance.
Deinonychosauria weisen nun eine extreme Version der vergrößerten D-II Klaue auf. Zusammen mit einem verkürzten D-II Metatarsus zur mechanischen Stabilisierung sowie der Positionierung der vergrößerten Klaue an der Fußinnenseite für optimierte Hebelwirkung bei Gebrauch kommen Fowler et al. mit dem Raptor Prey Restraint (oder „Ripper“) Model auf: Deinonychosauria, die ihre Beute mit den Krallen festheften, mit Flügelschlagen fehlender Balance entgegenwirken und mit Waranähnlichen Zähnen (hier kommt die EPB ins Spiel) dem lebendigen Opfer Fleischstücke herausreißen, indem sie die Zähne in das Opfer versenken und den Kopf hochreißen. Eine eindrucksvolle Zeichnung veranschaulicht dieses Verhalten:

Figure 1 (Ripper behavioural model):

Zum Ende des Papers wird die Tragweite und Wichtigkeit Fowler’s Arbeit dadurch erweitert, dass er argumentiert alle von Padian und de Ricqles (ZITAT) definierten Vorraussetzungen für den Vogel-Flug seien durch das stability flapping erfüllt. Dieses Model gibt, anders etwa als die Gleitflug-Hypothese, eine Möglichkeit für das Erlangen von Flugverraussetzungen aus einer funktional völlig anderen Perspektive. Inwieweit diese neueste Hypothese testbar ist, wie sie in der paläontologischen Community aufgenommen und diskutiert wird bleibt abzuwarten – aber ich denke es lohnt sich, die Fragestellung im Auge zu behalten.

Ich empfehle für interessierte an obigem Thema neben dem paper vor allem das Video 2 im Anhang des papers, welches einen Falken zeigt, der sich entsprechend des Raptor Prey Restraint Models verhält. Das Video findet sich am Ende des papers.

 

Serjoscha

References:

Fowler, D. W., Freedman, E. A., Scanella, J. B., Kambic, R. E., 2011. The Predatory Ecology of Deinonychus and the Origin of Flapping in Birds: PLoS One, v. 6, no.12: e28964. doi:10.1371/journal.pone.0028964

Padian, K., de Ricqles, A., 2009. The origin and evolution of birds: 35 years of progress: C R Paleovol 8, pp. 257-280

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